Im historischen Rückblick waren jene Herrschaftsregime besonders erfolgreich, denen es gelungen ist, ein Spannungsfeld zwischen Gut und Böse aufrecht zu erhalten. Das gilt insbesondere für die Jenseitsvorstellungen der christlichen Religionen, die alle eine Idee von Himmel und Hölle entwickelten und das Handeln der Menschen auf diese Weise jahrtausendelang mit einer Kombination von attraktiven Angeboten und abstoßenden Restriktionen erfolgreich beeinflusst haben (Lang 2019).
Dementsprechend ist auch die ökonomische Theoriebildung seit Menschengedenken von Wertentscheidungen im Spannungsfeld von Gut und Böse geprägt, wobei sich die Vorstellung von einem guten Markt historisch immer wieder grundlegend verändert hat (Sedlacek 2012). Vor diesem Hintergrund ist die aktuelle neoliberale Überzeugung, dass Märkte vermeintlich ehernen Gesetzen folgen, die sich entsprechend den Naturgesetzen berechnen lassen, nur die jüngste ökonomische Perspektive (Weintraub 2019). Auch sie gründet sich auf weitreichenden Wertentscheidungen; einerseits wird das Wirken reiner Marktgesetze gefordert (‚the market knows best‘) und andererseits vor korrigierenden politischen Interventionen gewarnt (Biebricher 2021). Demnach unterstützt eine gute Politik die freie Marktentwicklung, während demgegenüber eine böse Politik die Entfaltung der Marktkräfte einschränkt.
Diese wirtschaftstheoretische Vorstellung findet sich auch in der durch das ökonomische Denken geprägten Verkehrswissenschaft (Schwedes 2021). Ausgehend von der Einsicht in die Abhängigkeit einer prosperierenden Wirtschaft von einem funktionierenden Verkehrssystem, attestiert die Verkehrswissenschaft als vermeintlich ehernes Gesetz die Notwendigkeit des Verkehrswachstums als zwingende Folge einer wachsenden Wirtschaft. Demnach unterstützt eine gute Politik das Verkehrswachstum zugunsten der wirtschaftlichen Wohlfahrt, während demgegenüber eine böse Politik der ökonomischen Entwicklung schadet, indem sie die Verkehrsentwicklung einschränkt. In dem Maße, wie sich dieses verkehrswissenschaftliche Selbstverständnis seit den 1980er Jahren durchsetzte, hat die Verkehrsplanung als Disziplin mit eigenen Ideen und Zielen an gesellschaftlicher Relevanz verloren (Schwedes 2016). Ihr ging es seitdem immer weniger darum die Verkehrsentwicklung zu gestalten, sondern sie vorrangig den ökonomischen Anforderungen folgend anzupassen.
Indem sich auf diese Weise das Spannungsfeld zwischen Gut und Böse einseitig zugunsten einer vorwiegend guten, weil marktkonformen Politik aufgelöst hat, sind der Verkehrsplanung wichtige Gestaltungsinstrumente verloren gegangen. Während sie bis dahin mit einer Kombination von guten Angeboten (Pull-Maßnahmen) und bösen Restriktionen (Push-Maßnahmen) operiert hatte, beschränkte sich die Verkehrsplanung seitdem darauf, für alle Beteiligte attraktive Angebote zu schaffen. Restriktive politische Eingriffe in den Verkehr, wie etwa die seit Mitte der 1980er Jahre vom Deutschen Städtetag geforderte Reduktion der Regelgeschwindigkeit in Innenstädten von 50 auf 30 km/h, gelten dem Bundesverkehrsminister zufolge als böse. [1]
Erst in jüngster Zeit, als Folge des wachsenden Problembewusstseins bezüglich eines Verkehrssektors, der sich nicht auf einem nachhaltigen Entwicklungspfad befindet und eines wachsenden politischen Drucks aufgrund fehlender Maßnahmen des Bundesverkehrsministeriums, rücken neben den guten Pull-Maßnahmen auch die bösen Push-Maßnahmen wieder in den Blick. Und wir erinnern uns, dass eine wirkungsvolle Verkehrsplanung nur in der klugen Kombination von Push- und Pull-Maßnahmen möglich ist. Von den großen Religionen können wir lernen, dass das Versprechen vom Jenseits die Menschen in seiner Ambivalenz von Himmel und Hölle fasziniert hat. Heute gilt es den Menschen ebenso überzeugend zu vermitteln, dass ein gutes Leben auf Erden eine nachhaltige Verkehrsentwicklung erfordert, die nur mit einer Kombination von Pull- und Push-Maßnahmen zu erreichen ist.
Was ist die Moral von der Geschicht? Böse Push-Maßnahmen gibt es nicht!
Die These möchten wir im Rahmen unseres Forschungsprojekts wissenschaftlich begründen, um den verlorengegangenen Gestaltungsanspruch der Verkehrsplanung wiederzubeleben und damit eine nachhaltige Verkehrsentwicklung zu unterstützen.
08.03.2023 von Oliver Schwedes
[1] Siehe auch den erneuten Versuch: https://www.staedtetag.de/themen/2021/lebenswerte-staedte-durch-angemessene-geschwindigkeiten [07.03.2023]
Quellen
Biebricher, T (2021): Die politische Theorie des Neoliberalismus. Frankfurt M.
Lang, B. (2019): Himmel, Hölle, Paradies. Jenseitswelten von der Antike bis heute. München.
Schwedes, O. (2016): Verkehrspolitik: Ein problemorientierter Überblick. In: Schwedes, O.; Canzler, W.;
_Knie, A.: Handbuch Verkehrspolitik. Wiesbaden, S. 3-31.
Schwedes, O. (2021): Verkehr im Kapitalismus. Bielefeld.
Sedlacek, T. (2012): Die Ökonomie von Gut und Böse. München.
Weintraub, R. E. (2019): How Economics Became a Mathematical Science. Durham, NC.