Hier können Sie Anjas Zuhause kennenlernen. Ihre einzelnen Wegestationen sind als Kreis dargestellt, die grünen Bögen kennzeichnen Anjas Aktionsraum. Klicken Sie sich durch die Karte!
Die Wohnumfeld Verbundenen
Anja 36 Jahre, alleinstehend
Wohnhaft im Falkenhagener Feld
In der Abendsonne steht Anja auf ihrem kleinen Balkon und raucht eine Zigarette. Sie genießt die Ruhe. Die Flugzeuge, die regelmäßig über dem Falkenhagener Feld dröhnen, haben sie nie gestört. Anja ist hier aufgewachsen und jede Maschine, die den Flughafen Tegel am Leben hält, erfreut sie. Sie erinnern Anja an die Kindheit mit ihrer Schwester Natascha. Mit bloßem Auge versuchten die Schwestern damals, die verschiedenen Airlines zu erkennen.
Vor kurzem ist ihre Mutter gestorben. Sie hatte in der Nähe gewohnt, so hatte Anja jeden Tag vorbeischauen können. Essen vorbeibringen, ein bisschen saubermachen. Anjas Tag hatte schon morgens um sieben begonnen, was sich mit Mutters Tod veränderte. Im Moment geht Anja nur aus dem Haus, um Lebensmittel und Futter für ihren Kater Fritz zu kaufen. Zum Jobcenter muss sie demnächst allerdings mal wieder. Anja ist schon lange arbeitslos gemeldet – wie lange schon, das hat sie vergessen. Ab und zu hat sie eine Jobcenter-Maßnahme besucht oder einen Aushilfsjob angefangen. Fuß fassen konnte sie aber nirgends. Irgendwie bekam Anja immer Stress mit irgendwelchen Leuten. Viele Beziehungen hat sie abgebrochen.
Anja lässt sich bei der Gruppe der Wohnumfeld-Verbundenen einordnen. Es handelt sich um eine Gruppe mit äußerst kleinem Aktionsraum. Dieser setzt sich aus stets wiederkehrenden Alltagswegen zusammen, die kurz sind und in der Regel zu Fuß absolviert werden. Die befragten Wohnumfeld-Verbundenen leben schon lange in ihren Wohnquartieren. Im typischen Fall sind sie in ihrem Wohnumfeld geboren und aufgewachsen.
Als sich Anjas Eltern scheiden ließen, stand kurz zur Debatte, aus dem Falkenhagener Feld wegzuziehen. Aber dann fand Mutter eine Wohnung im Quartier für sich und die Töchter. Ein paar Jahre nach ihrer Schwester zog Anja schließlich aus – in das Hochhaus, in dem sie bis heute lebt. Ab und zu kommt Anjas Schwester Natascha sie noch mal aus Berlin besuchen. Manchmal hilft sie beim Großeinkauf und sie schleppen gemeinsam Wasserkästen in ihre Wohnung. Wenn ihre Schwester bei ihr klingelt, dann, so sagt Anja scherzhaft, „lasse ich mal die Grenzschranke hoch und dich in mein Falkenhagener Feld ein“. Selbst besucht Anja Natascha nicht – einfach keine Lust. „Ich bin eben häuslich“ antwortet sie ihrer Schwester, wenn diese mal nachfragt, warum sie nicht mal vorbeikommt. In ihrer Wohnung fühlt Anja sich wohl. Sie schaut fern und hört Musik im Radio und kümmert sich um ihren Kater Fritz. Nach 22 Uhr verlässt Anja nicht ihre Wohnung. Anja hat Angst, nachdem sie vor ein paar Jahren von einem Betrunkenen belästigt wurde. Die Kriminalität ist ihrer Meinung nach im Viertel angestiegen; Da geht sie Konfrontationen lieber aus dem Weg. Viel vermisst sie dabei nicht: Anjas Wohnung ist ihre „Wohlfühloase“.
Die Formulierung „meine Schwester kommt mich aus Berlin besuchen“ steht sinnbildlich für den Eindruck vieler Wohnumfeld-Verbundener. Sie verorten sich stark in ihrem Kiez und nehmen ihn dabei nicht als Teil der Stadt wahr, deren Teil er eigentlich ist. Die Fahrt in die Stadt hinein oder der Besuch aus der Stadt werden als besonders wahrgenommen, worauf auch das Bild mit der „Grenzschranke“ hindeutet – Wobei Anja selbst keinen großen Wunsch äußert, die sinnbildliche Schranke zu überschreiten und ihr gewohntes Umfeld zu verlassen.
Die Bushaltestelle ist nicht weit entfernt von Anjas Wohnung. Aber sie fährt nicht oft raus aus dem Feld. Ab und zu fährt sie zum großen Einkaufszentrum am Bahnhof Spandau. Aber eigentlich nur, um zu schauen, denn die Preise sind ihr viel zu hoch. Außerdem schreckt sie die Busfahrt ab. Die Busse sind ihr viel zu eng und überfüllt. Da sie nicht so oft fährt, kauft sie sich Einzeltickets und verzichtet auf das Sozialticket. Anja hat zwar mitbekommen, dass das Sozialticket nur noch 27,50 Euro kostet, aber momentan spart sie auch hier. Das lohnt sich für sie erst dann wieder, wenn sie mehr unterwegs sein muss. Mit dem Fahrrad ist Anja nur als Kind und Jugendliche gefahren. Irgendwann landete es im Keller und wurde bei einem Einbruch geklaut. Anja hatte aber auch nie Lust, geschweige denn das Geld, um sich ein neues Fahrrad zuzulegen.
Die Zigarette hat Anja nun aufgeraucht. Würde sie was ändern… Warum? Das mit den Bussen ist nicht so prickelnd. Zu viele Leute. Da wäre eine S-Bahn-Verbindung schon schick. Aber was soll sie in der Stadt Berlin?
Anders als beispielsweise die Familiären Profis verfügen die Wohnumfeld-Verbundenen nicht über besondere Kenntnis des ÖPNV-Tarifsystems. Ihre Nutzung beschränkt sich auf wenige Fahrten im Monat, für die sie den Bartarif nutzen. Natürlich spielt auch für sie der Preis eine wichtige Rolle – wie für alle Personen, die von „Hartz IV“ leben. Allerdings thematisieren sie den Tarif nicht so stark. Sie bemängeln eher die Enge, die sie in den Bussen wahrnehmen. Ihr Eindruck deckt sich mit dem Ergebnis aus einer Untersuchung der Bus-und Tram-Abfahrten: Die Quartiere mit geringer Kaufkraft sind in der Regel gut durch Haltestellen erschlossen und durch Abfahrten bedient. Da hier besonders viele Menschen den ÖPNV nutzen möchten (oder müssen), stehen aber weniger Abfahrten pro Kopf zur Verfügung.
← In der Karte können Sie sich das Risiko für Exklusion einblenden (Button oben rechts). Methodischer Hintergrund zur Risiko-Karte
Um das Angebot zu verbessern, ziehen die Wohnumfeld-Verbundenen im Falkenhagener Feld eine Anbindung an den Schienenverkehr zwar in Erwägung. So präsent wie beispielsweise in den Hamburger Untersuchungsgebieten Steilshoop und Osdorfer Born ist das Thema allerdings nicht. An den Wohnumfeld-Verbundenen geht die politische Debatte um den Schienenverkehr eher vorbei. Ob eine S-Bahn zu einem Aufschwung und/oder zu einer Steigerung der Mietpreise führen würde, ist für sie nicht relevant. Was zählt, ist nicht das Morgen, sondern der Alltag. Für die Wohnumfeld-Verbundenen bleibt ein Narrativ: „Hier komme ich her – hier bin ich – hier bleibe ich“.