Verfolgen Sie hier Danielas Routinen! Die Alltagsziele sind an den Kreissymbolen erkennbar. Das farbige Layer zeigt den Erreichbarkeits-Index für jeden Berliner Planungsraum. Im Menü im oberen rechten Eck der Karte können Sie die Layer an- und abwählen.
Die Routiniert Getriebenen
Daniela, 52 Jahre, alleinstehend
Wohnhaft in Berlin Neukölln
Nach einem kurzen Frühstück – ein Apfel, ein schwarzer Kaffee – geht Daniela um neun Uhr aus dem Haus. Ihren Frühstücks-Apfel hat sie vergangene Woche bei der Lebensmittel-Tafel mitgenommen. Sie nutzt das Angebot regelmäßig, da die Ausgabestelle in der Fuldastraße zu Fuß zu erreichen ist. Dabei versucht sie möglichst früh bei der Tafel zu sein und diese so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Daniela geht nicht gerne zur Tafel, weil da manchmal Bekannte aus ihrer Obdachlosenzeit sind. Die holen dort auch regelmäßig Essen, aber Daniela meidet den Kontakt. Sie ist froh, seit drei Jahren wieder eine eigene Wohnung zu haben. Die bepackten Taschen und Tüten trägt Daniela meist nach Hause. Der Transport der Lebensmittel ist beschwerlich, aber sie ist die Schlepperei gewohnt. Vor kurzem hat sie ein Lastenrad in ihrem Kiez gesehen. Wäre das nicht eine Lösung, um das Essen nach Hause zu bekommen?
Wie mehrere Befragte berichten, ist die Lebensmittel-Tafel ein relevantes Ziel in ihrem Alltag. Hier können sie sich mit Essen versorgen, das von Supermärkten aussortiert wurde. In den letzten Jahren ist die Nachfrage bei den Tafeln angestiegen.
In Berlin konnten wir 45 Ausgabestellen der Tafel kartieren, die gut im Stadtraum verteilt sind: 33 Prozent der „Hartz IV“-Empfänger:innen erreichen eine Essensausgabe zu Fuß oder innerhalb von zehn Minuten mit dem Nahverkehr. Bei einer Reisezeit von 15 Minuten sind es sogar 72 Prozent. Für den Großteil der Befragten, der das Sozialticket nutzt, würde auch eine weitere Entfernung kein Problem darstellen: Das Berlin-Ticket S gilt im ganzen Stadtraum AB ohne zeitliche Einschränkung. Hier zeigt sich ein wesentlicher Unterschied im ÖPNV-Angebot in Hamburg. Auch dort gibt es günstige Abo-Tickets. Allerdings sind sie mit Sperrzeiten verbunden, die von den Befragten als sehr einschränkend wahrgenommen werden (siehe Katjas Geschichte bei den Familiären Profis).
←Das farbige Layer in der Karte zeigt Ihnen die Erreichbarkeit wichtiger Ziele wie Arztpraxen und Tafeln mit dem Kurzstrecken-Tarif. Wenig überraschend: An zentral gelegenen Orten sind mehr Ziele erreichbar (grün eingefärbt).
Wenn es in ihr Budget passt, nutzen arme Menschen durchaus auch neue Mobilitätsformen: Während unserer Befragung ging in Hamburg das Ridepooling-Angebot ioki an den Start, das eine Tür-zu-Tür-Bedienung bietet. Nicht nur kennen alle von uns Befragten das Angebot – einige nutzen es, in einem Fall sogar gezielt für Fahrten von der Lebensmittel-Tafel nach Hause.
Aber heute geht es nicht zur Tafel. Die zwei großen Taschen, die Daniela immer über der Schulter hat, dienen einem anderen Zweck. Jeden Tag dreht sie ihre Runde, um Pfandflaschen einzusammeln und sich das „Hartz IV“ aufzubessern. Mit den Taschen kommt Daniela am besten zurecht. Ein Rucksack wäre zu umständlich, für jede Flasche müsste sie ihn absetzen. Ein zweirädriger Einkaufswagen kommt auch nicht in Frage, da schon das Geräusch eines Wägelchens Daniela nervös macht. Mit den Taschen aber geht es ganz schnell: Jede Flasche kann sie sofort einstecken. Wenn die Taschen voll sind, geht Daniela zum nächsten Supermarkt und gibt die Flaschen ab. Auf etwas über zwanzig Flaschen kommt sie pro Runde, das sind zwischen drei und fünf Euro.
Das Pfandsammeln ist, wie verschiedene Forschungsarbeiten herausstellen, eine verbreitete Form des Zuverdienstes in prekären Lebenslagen. Zahlen gibt es nicht, aber Schätzungen zufolge gewinnt die Gruppe der Pfand-Sammelnden an Mitgliedern, seit viele sozialstaatliche Leistungen in den 1990er-Jahren abgebaut wurden und seitdem 2003 das Einwegpfand eingeführt wurde. Dem Nahverkehr fällt für Daniela beim Flaschensammeln ein doppelter Nutzen zu: Zum einen befördert der ÖPNV die Sammelnde günstig zwischen den lohnenswerten Orten. Zum anderen fallen in den Fahrzeugen und Haltestellen selbst viele Pfandflaschen an. Bus und Bahn werden strategisch als Mobilitätswerkzeuge genutzt und dienen gleichzeitig als Quelle für den Zuverdienst, wobei sich die Nutzung zumindest teilweise refinanziert.
Daniela hat eine feste Route, die sie mehrmals täglich abläuft. Lohnend sind die U-Bahnstationen und Parks. In den Parks findet sie vor allem im Sommer am späten Abend einige Flaschen. Heute verbindet Daniela ihre Tour damit, eine Freundin zu treffen. Sie begleitet die Freundin zum Jobcenter, weil es da irgendwelchen Stress gegeben hat. Nach dem Termin gibt ihre Freundin einen Kaffee beim Bäcker aus. Dann geht es für Daniela direkt weiter, um ihren Sohn in Charlottenburg zu besuchen. Vorher möchte Daniela wenigstens noch ein paar Flaschen einsammeln. Zu ihrem Sohn fährt sie mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Daniela nutzt das Sozialticket, da sie täglich vor allem mit der U-Bahn unterwegs ist. Einmal im Monat, so hat es Daniela sich vorgenommen, möchte sie ihren Sohn besuchen und ihren Enkel sehen. Die Treffen sind meist kurz. Eigentlich ist sie nicht gern gesehen, denn in den Jahren der Obdachlosigkeit war der Kontakt ganz abgebrochen.
In den Wegetagebüchern unserer Befragten ist der Besuch von Familie und Freunden einer der am häufigsten genannten Zwecke, das Haus zu verlassen. Generell nutzen die Befragten hauptsächlich Bus und Bahn. Sie legen 45 Prozent ihrer Wege mit dem ÖPNV zurück, wie das Diagramm zeigt:
Verkehrsmittelnutzung der Befragten, in Prozent der Wege. Quelle: Havemann (2021)
Nach dem Treffen mit dem Sohn fährt Daniela nach Hause. Auf dem Weg zur Wohnung macht sie noch einen kleinen Abstecher zum Supermarkt. Vom Pfandgeld kauft sie sich eine Fertigpizza und geht nach Hause. Der Tag geht zu Ende. Manchmal schaut Daniela abends noch bei ihrem alten Freund Kurt vorbei. Er wohnt in der Nähe. Mit Kurt könnte sie quatschen und sich über ihren Sohn aufregen. Nachdem sie sich die Pizza warm gemacht und gegessen hat, verwirft sie den Gedanken. Die fünf Minuten Fußweg sind ihr heute zu viel. Sie ist doch zu müde.
Daniela lässt sich in die Gruppe der Routiniert Getriebenen einordnen. Diese sind schon lange aus regulären Arbeitszusammenhängen herausgefallen. In der langen Zeit einer sozial prekären Armutslage entwickeln sie Routinen, die auf das Ziel des „Überlebens“ ausgerichtet sind. Wunschziele jenseits ihres täglichen Aktionsraums benennen sie nicht. Jedoch verfügen die Routiniert Getriebenen bezogen auf die Anforderungen des Mobilitätsalltags über solide Kenntnisse zu Mobilitätsangeboten. Es gelingt ihnen, neue Angebote sehr schnell wahrzunehmen und in ihren Mobilitätsalltag einzubauen. Entsprechend schnell können sie Routinen ausbilden. Beratungsstellen und Sozial-Angebote nutzen sie intensiv. Die räumliche Verteilung der Angebote ist in den untersuchten Gebieten unterschiedlich. In Berlin-Nordneukölln gibt es beispielsweise viele Angebote, die weiträumig im Quartier verteilt sind. In Hamburg-Osdorfer Born sind die Angebote dagegen zentral auf einem Gelände zu finden. Die Routiniert Getriebenen bewegen sich souverän durch die Stadt. Das Innehalten fällt ihnen allerdings schwer. Denn um ihren Lebensalltag zu bewältigen, müssen sie in Bewegung bleiben.